Tokio, Japan06/21–09/21

Theodor Maier

Einmal verpasste ich abends die letzte U-Bahn und beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Fast drei Stunden wanderte ich durch die Nacht. Ab und zu begegnete mir ein Wächter am Rande eines Parks, und ich beobachtete eine Gruppe von jungen Leuten in Anzügen, wie sie einen Betrunkenen über ihren Köpfen trugen. Die Stadt fühlt sich an, als hätten sich 23 Kleinstädte zueinandergesellt. Ich verließ das Zentrum des einen Viertels (d. h. den Bahnhof, der in vielen Fällen zugleich ein Kaufhaus ist, und seine Umgebung), durchschritt ruhige Wohngegenden und gelangte zum nächsten Zentrum und über die Peripherie wieder zu einem Zentrum, bis ich schließlich zu Hause war. Dementsprechend lebte ich in dieser Stadt: Ich beschloss, einen halben Tag in Shinjuku zu verbringen oder hatte in Ueno zu tun, traf mich zum Einkaufen in Shimokitazawa oder ging in Roppongi ins Museum. Spontane Treffen ergaben sich selten, meine Freunde dort waren isogashii (beschäftigt), und meist vereinbarten wir mindestens eine Woche im Vorhinein einen Termin. Es gab, wie erhofft, viel zu erleben und zu sehen, die ungewohnten Umgangsformen, die oft zitierten Gegensätze, das Erwartete und das Überraschende.

1. Mein Aufenthalt im Atelier in einem Wort:
  Iideshitane!
2. Dos & Don’ts an diesem Ort:
  dos: Im Mori Art Museum vom 53. Stockwerk oder im Rathaus Shinjuku vom 45. Stockwerk aus auf die Stadt hinunterschauen, sich in einem Cut-Only-Shop für 1000 Yen (ca. 8 Euro) die Haare schneiden lassen, in den Imbisslokalen zwischen den Salarymenschen stehen und eine Suppe schlürfen, sich für Tempel und Schreine interessieren, die Antiquariate in Jimbocho durchforsten, die wichtigsten japanischen Sätze auswendig lernen, v. a. „iranai/daijobu desu“ (nein danke/das brauche ich nicht/ist schon gut), seinen Namen in Katakana schreiben lernen (darum wird man oft gebeten), sich das Ticket Seishun 18 Kippu kaufen und mit den Regionalzügen an Japans Küsten, Reisfeldern und dem Fuji entlangfahren, zumindest einmal mit dem Shinkansen fahren, falls Sommer ist, auf den Fuji gehen, auf halbem Weg in einer Kabine übernachten, bei Sonnenaufgang vom Gipfel schauen und Cupnoodles zum Frühstück essen.
don’ts: Beim Gehen in der Menschenmenge darüber nachdenken, wem man wie ausweichen soll, gegen den Müllkalender verstoßen (auch bei sorgfältiger Befolgung kann es ratsam sein, den Müll nachts bei Dunkelheit hinauszutragen, um Konflikten mit den Nachbar:innen aus dem Weg zu gehen), zu viel Geld für den Shinkansen ausgeben und die Klassiker wie: im Gehen essen oder rauchen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln telefonieren, Tatamimatten, Umkleidekabinen und Arztpraxen mit Schuhen betreten, sich vor den Augen anderer schnäuzen.
3. Das fehlt mir/das vermisse ich, seit ich nicht mehr dort bin:
  Wie günstig es dort sein kann, essen zu gehen, dass einem an den Supermarktkassen die gekauften Waren ordentlich in einen Korb gelegt werden, die Stille in den öffentlichen Verkehrsmitteln, das Vorbeifahren an den Leuchtreklamen in der Dunkelheit, die Schlafenden in den Zügen und Cafés, zu wissen, in der größten Stadt der Welt zu wohnen.
4. Wo man super Arbeitsmaterial kaufen kann:
  Farben, Rahmen, Blöcke etc. bei Sekaido, Papier bei Takeo und in der 13-stöckigen Schreibwarenhandlung Itoya, einiges an Buchbinderbedarf und Werkzeug im 100-Yen-Shop Daiso, den man überall findet, gebrauchte analoge Kameras bei Classic Camera Moritz in Shinjuku, Filme bei Bic Camera oder Yodobashi, schnelle und günstige Filmentwicklung bei Yellow Jacket.
5. Das sollte man unbedingt von zu Hause mitbringen:
  Bequeme Schuhe. Weil die U-Bahn-Stationen relativ weit voneinander liegen, geht man in Tokio recht viel zu Fuß.
6. Zum Thema Kunst an meinem Residency Ort:
  Es lohnt sich sehr, Anne und Sebastian Groß im Studio Gross zu besuchen und sich von ihnen Arakawa bei einem gemeinsamen Stadtspaziergang zeigen zu lassen. Merkwürdig erschien mir, dass es in Japan üblich ist, als ausstellende/r Künstler:in Miete für den Ausstellungsraum zu bezahlen, was meinem Eindruck nach dazu führt, dass es oft weniger um eine inhaltliche Auseinandersetzung geht als darum, dass sich jemand präsentiert, der/die es sich gerade leisten kann. Einzelausstellungen werden dort besonders hoch angesehen, oft sind es deshalb Personen und ihre Produkte, die im Vordergrund stehen. Das kann aber auch damit zu tun haben, dass bildende Kunst in Japan nach wie vor einen starken Bezug zum Handwerk hat, und ist vielleicht gar nichts Negatives. Kunst ist oft in großen Einkaufshäusern und teuren Geschäften zu sehen. Beeindruckt hat mich vor allem die Galerie Maison Hermès Ginza „Le Forum“: Mit dem Lift wird man in die oberen Stockwerke vom Maison Hermès gebracht, wo durch die milchgläsernen Wände die umliegenden Häuser und der Verkehr durchscheinen.
7. Rund um das Auslandsatelier – hier kaufe ich ein, hier trinke ich Kaffee und hier gibt’s den besten Mittagsteller in Laufdistanz:
  Lebensmittel einkaufen im glücklicherweise sehr nahe gelegenen LIFE Supamaketto und in den Konbinis, Kleidung, Schreibwaren und Allfälliges auf der ebenfalls sehr nahen kleinen Einkaufsstraße – hier und rund um andere Wohngegenden wie Kita-Senju gibt es viel günstigere Secondhand-Shops als in den designierten Vintage-Shop-Bezirken wie Koenji oder Shimokitazawa. Kaffee habe ich oft im Café Lone auf dieser Einkaufsstraße getrunken. Wenn ich in der Gegend war, habe ich meistens zu Hause gegessen, aber in den japanischen Restaurants ist das Essen ohnehin fast immer sehr gut.
8. Den Tag lasse ich häufig hier ausklingen (Dinner, Drinks und bester Sound):
  Die japanischen Stehbars haben mir besonders gut gefallen: Japanischsprechende Begleitung kann einem dabei helfen, Eingang in diese Räume zu finden, wo die Gäste im Halbkreis um den/die Bartender:in stehen und sich mit ihm/ihr unterhalten. Auch in den Izakayas („Sake-Geschäft zum Verweilen“) ist es schön. Oft gehen zwei Personen, eine mit einem Musikinstrument, die andere mit einem Liederkatalog, von Tisch zu Tisch und spielen die Begleitung zu Liedern, die die an den Tischen Sitzenden selbst singen (ad bester Sound).
9. Was ich gerne schon am Beginn meiner Residency über das Atelier gewusst hätte:
  Wie viel es in Arakawa zu entdecken gibt, wie viele Kunsträume, wie viele interessante Menschen man dort kennenlernen kann, dass es zwar sehr helfen würde, etwas Japanisch zu sprechen, man aber auch ohne Sprachkenntnisse durch so gut wie jede Situation kommt.


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